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Deutsch-Polnische Landestagung im Gymnasium Ernestinum: Hoffnungsvoller Schülerbetrag – kritische Ansichten von Künstlern

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Ein proppenvoller großer Hörsaal, anspruchsvolle Themen, nachdenkliche Gesichter und allenthalben Dank für die gute Organisation – die erstmals in Rinteln veranstaltete Landestagung der Deutsch-Polnischen Gesellschaften in Niedersachsen war ein kleiner, aber voller Erfolg. „Die deutsch-polnischen Beziehungen auf Regierungsebene sind in Unordnung, wir dagegen pflegen die Arbeit auf lokaler und regionaler Ebene, und diese Arbeit läuft gut“, stellte DPG-Landesvorsitzender Harm Adam heraus. „Wir müssen lernen, miteinander zu kooperieren und bewahren, was wir uns an Freundschaften erarbeitet haben.“

Schulleiter Andre Sawade (rechts) begrüßt die Teilnehmer der Landestagung der Deutsch-Polnischen Gesellschaften in Niedersachsen sowie rund 50 Gäste aus Rinteln im großen Hörsaal des Gymnasiums Ernestinum. (Foto: privat)

Unermüdlich weiter Kontakte aufbauen und pflegen, das ist dringend nötig, bestätigten auch die Referenten, denn die aktuelle polnische Regierung durchdringe inzwischen alle gesellschaftlichen und institutionellen Ebenen, um mit ihrem fragwürdigen Geschichts- und Weltbild ihre Macht nachhaltig zu sichern. Mit ersten negativen Folgen für Kulturaustausch und Freundschaftspflege. Der preisgekrönte Romanautor Artur Becker brachte es auf den Punkt: „Es ist nicht wichtig, welche Nationalität im Pass steht, sondern dass wir uns gegenseitig zuerst als Menschen sehen.“

Schülerin Marie Meyer (links) und Projektlehrerin Natalie Janz präsentieren das von Schülern aus Rinteln und Slawno getragene Projekt Erinnerungsarbeit im ehemaligen KZ Stutthof bei Danzig. (Foto: privat)

„Wir beglückwünschen den Landesverband dazu, Rinteln als Tagungsort gewählt zu haben“, dankte Bürgermeister Thomas Priemer dem DPG-Landesvorsitzenden Harm Adam (Göttingen). Rund 20 Vertreter von sechs der 17 Mitgliedsstädte des Landesverbands waren nach Rinteln gekommen, dazu zeitweise 50 Interessierte aus der Weserstadt. Priemer fuhr fort: „Wir selbst haben das Glück, in Slawno Partner gefunden zu haben, die den europäischen Gedanken so leben wie wir, außer zum Beispiel beim Thema Flüchtlinge. Aber da tun wir uns ja inzwischen auch schwer.“ Priemer verwies auf die nun schon über 25 Jahre aktiver und erfolgreicher Partnerschaft mit Kendal und Slawno, die zu Austausch und Begegnungen von mehreren tausend Menschen aller Generationen geführt hätten.

André Sawade, Leiter des Gymnasiums Ernestinum, bekräftigte: „Diese Landestagung wertet unsere Arbeit am Gymnasium als Europaschule in Niedersachsen auf. Kern dieser Arbeit sind unsere Kontakte zu Frankreich und Polen, wir haben inzwischen aber auch Kontakte bis nach USA und China. Das sind keine touristischen Aktivitäten, sondern wir arbeiten an Projekten und wollen dabei die Menschen, vor allem die Jugendlichen treffen.“

Veranstalter und Referenten der Landestagung: Dirk Szuszies (von links), Landesvorsitzender Harm Adam, Artur Becker, Karin Kaper, Violetta Kleinsteuber (stellvertretende Landesvorsitzende), Dietrich Lange (Vorsitzender des Rintelner Vereins für Städtepartnerschaften) und Schulleiter Andre Sawade. (Foto: privat)

Wie vorbildlich dieser Austausch auch mit der Partnerschule in Slawno läuft, zeigte nach einer musikalischen Begrüßung durch das Ensemble „Musici Ernesti“ unter Leitung von Martin Requardt die Präsentation eines gemeinsamen Erinnerungsprojektes im ehemaligen Konzentrationslager Stutthof bei Danzig. Im Frühjahr 2017 hatten Schüler aus Rinteln und Slawno dort mit Referaten den geschichtlichen Hintergrund erarbeitet und am Ende die Außenanlagen der Gedenkstätte gepflegt. Die Slawnoer Schüler drehten darüber einen Film, den Tobias Möller vom Rintelner Verein für Städtepartnerschaften auf zehn Minuten Länge zusammengeschnitten hatte. Dieses Ergebnis präsentierte Schülerin Marie Meyer, weitere Erklärungen gab Projektlehrerin Natalie Janz. Und was war am berührendsten? Meier: „Als wir die Berge von Schuhen (der in Stutthof umgebrachten Lagerinsassen, Anm. der Red.) gesehen haben.“ Das sagte ihnen mehr als jede Statistik.

„Beeindruckend, dass sich junge Menschen dieser Erinnerung widmen, wo in der großen Politik sieben Jahrzehnte nach Kriegsende das Verniedlichen, Verdrängen und Vergessen Schlagzeilen macht“, würdigte Dietrich Lange, Vorsitzender des Rintelner Vereins für Städtepartnerschaften, den Beitrag. Er dankte mit der Übergabe von zehn Exemplaren der Novelle „Die Zeit der Stinte“ von Artur Becker, die sich ebenfalls kritisch mit dem KZ Stutthof, sein Opfern und Tätern beschäftigt (erschienen 2006, inzwischen vergriffen).

Weiter ging es dann mit einem aufrüttelnden Dokumenarfilm in Profi-Qualität. Karin Kaper, aktuelle Trägerin des Schlesischen Kulturpreises des Landes Niedersachsen, zeigte mit ihrem Partner Dirk Szuszies, Ausschnitte aus „Wir sind Juden in Breslau“. Es handelt sich um 14 Schicksale von Zeitzeugen aus der NS-Zeit, von ersten Diskriminierungen über Gewalt, Verschleppung und dem Verlust fast aller Angehörigen in der rassistischen Vernichtungsmaschinerie des „Dritten Reichs“. Kaper und Szuszies kommentierten die ausgewählten Szenen auch mit Blick auf die heutige Regierungspolitik in Polen, mit der die Rolle Polens auf heldenhaften Widerstand ohne jede Mittäterschaft und eigene Antisemitismus reduziert wird. „Wenn sie das Kriegsmuseum in Danzig noch nicht besucht haben, tun sie es jetzt nicht mehr. Große Teile der viel gelobten Ausstellung sind inzwischen ausgewechselt und der Regierungsmeinung angepasst worden“, erklärte das Duo.

Kaper und Szuszies haben mit diesem Film schon viel Anerkennung geerntet, zeigten ihn in mehr als 100 Kinos hierzulande sowie in den USA und Israel. „In der weltbekannten Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ist unser Film in das offizielle Vorführangebot aufgenommen worden“, berichtete Kaper. Der Schlesische Kulturpreis ist nur eine vieler Anerkennungen. „Jetzt gehen wir damit im Herbst auf Polen-Tournee durch Schulen, Museen, Kinos und Veranstaltungssäle, aber erste Veranstalter wie auch das Goethe-Institut äußern plötzlich Bedenken oder sagen ab“, ergänzte Szuszies und vermutet dahinter den Druck der Regierung, die inzwischen nicht nur die Justiz, sondern auch das Kulturleben unter ihre Kontrolle zu bringen versucht.

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Ernste, nachdenkliche Mienen im Publikum, auch bei den rund 20 Schülern aus zwei Geschichtskursen des Gymnasiums. Nachfragen zur Präzisierung einzelner Aspekte, Schilderung persönlicher Betroffenheiten aus dem Publikum und die vorsichtige Frage einer Frau mit teils jüdischen Vorfahren an die Autoren folgten: „Sind sie eigentlich Juden?“ „Nein“, antwortete Kaper, sie lasse Juden sprechen. Ein Gast aus Hannover sprach schließlich vielen aus der Seele: „Das war ja unglaublich intensiv, so habe ich das noch nie gesehen.“

Szuszies betonte: „Unsere Arbeit ist wichtig für die Zukunft. Und die Lage in Polen sieht aktuell kritisch aus. Unsere Freundschaft zu Polen ist schon alt, aber das Problem ist: Wie sage ich es meinen Freunden, besonders als Deutscher? Wir sollten da bescheidener, aber trotzdem mutig sein. Und was tun wir erst, wenn uns all die Zeitzeugen des Holocaust verlassen haben?“ Aber nicht nur in Polen sieht Szuszies Probleme: „Wir gehen jetzt erst mal mit dem Film auf Ochsentour durch Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen. Störungen hatten wir bisher vor meist geneigtem Publikum im Westen nicht.“ Am Ende ihres Films haben Kaper und Szuszies allerdings einen friedlichen „Marsch gegenseitiger Achtung“ einem martialischen Aufmarsch von Nationalsozialisten gegenübergestellt. Erschreckend, denn solche Bilder sieht man heute in Deutschland und Polen wieder in den Nachrichten. Ein älterer Zuhörer aus Hannover: „Feindbilder werden wieder geschürt. Ich dachte, wir hätten das alles hinter uns. Aber jetzt taucht das schreckliche Gespenst aus den dreißiger Jahren wieder auf.“ Der Film kann übrigens als DVD bei den Autoren bestellt werden.

„Ein Problem der flüchtigen Moderne“

Als Schriftsteller Artur Becker nach der Mittagspause aus seinem neuesten Werk lesen wollte, war das Publikum auf die Hälfte geschrumpft, alle Schüler waren weg. Dabei hatte er sich gerade für sie vorbereitet, damit sie nicht auf die geschichtsvergessenen Phrasendrescher vom rechten Rand der Politik reinfallen: „Ein Herr Gauland macht aus der Geschichte eine Farce, eine Komödie. Geschichte ist für sie nur ein Material, das man beliebig formen kann. Das ist ein Problem der flüchtigen Moderne, in der man immer neue Geschichten braucht, aber an den großen schwierigen Themen nicht mehr länger dran bleiben kann.“ In Polen glaube die Regierung eher an Verschwörungstheorien als an Fakten, und auch in Deutschland würde die AFD bei einer Regierungsübernahme „so lange die Verfassung umschreiben, bis alle Nasen gleich ausgerichtet sind“.

Wirft einen kritischen, aber nicht hoffnungslosen Blick auf Deutsche, Polen und Europa: Schriftsteller Artur Becker. (Foto: privat)

Becker bat um Verständnis, dass Polen nicht in 25 Jahren so große Umbrüche bewältigen kann wie Westdeutschland in 70 Jahren. Wie schwer das sei, sehe man doch auch in Teilen Ost-Deutschlands. „Deshalb muss es einfach krachen“, sagte er. „Westeuropa geht mit Osteuropa allerdings sehr naiv um, beide Seiten verstehen sich nicht. Doch wenn wir die europäische Einheit jetzt nicht schaffen, dann geht es zurück ins 20. Jahrhundert, dann werden eines Tages wieder Konzentrationslager gebaut.“

Becker sah sich als Außenstehender mit Weitblick: „Ich lebe auf dem Mond und schaue mir die Menschen an, als Schriftsteller. Aber ich lege mich den dunklen Kräften an, die Europa terrorisieren.“

Gezielt von Dietrich Lange nach Umkehrmöglichkeiten in Polen gefragt, meinte Becker: „Ich gehe davon aus, dass die PIS-Partei auch nächstes Jahr die Parlamentswahlen gewinnt. Ein Wechsel wird dann mit demokratischen Mitteln erst mal längere Zeit nicht möglich sein. Doch irgendwann haben die Wähler genug.“ Augenzwinkernd schloss er: „ Wir Polen schaffen das!“

An den Rintelner Verein für Städtepartnerschaften und die Deutsch-Polnischen Gesellschaften in Niedersachsen appellierte Becker abschließend: „Ihre Arbeit ist enorm wichtig. Bleiben Sie am Ball!“ (pr)

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