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Masern, Pocken und Grippe: Epidemien in Rinteln um 1900

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(Rinteln) Das Corona-Virus bestimmt seit Wochen die Medien und neuerdings auch unseren Alltag in völlig ungewohnter Weise. Seit über 100 Jahren hat es keine vergleichbare Epidemie mehr gegeben. Doch ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass Seuchen nicht nur im Mittelalter, sondern auch im 19. und frühen 20. Jahrhundert in unserer Gegend noch allgegenwärtig waren und immer wieder in lokalen Ausbrüchen für Angst und Schrecken sorgten.

Zahlreiche Akten des Stadtarchivs berichten über die mehr oder minder hilflose Bekämpfung von Masern und Diphtherie 1811 in Heßlingen, Fuhlen und Goldbeck, über Maßnahmen gegen die Cholera-Epidemie von 1832, über verschiedene Ausbrüche der Roten Ruhr und das Bemühen m die Verbesserung der hygienischen Verhältnisse. Besonders verheerend waren noch im Kaiserreich Masern und Diphtherie, die unter den Kindern viele Opfer forderten. 1884 grassierte die Seuche in den Dörfern südlich von Rinteln, vor allem im Kirchspiel Bösingfeld.

Ein Augenzeuge berichtete am 15. Februar für die Schaumburger Zeitung: „Die sonst so belebten Spielplätze verödeten alsbald und die fröhlichen Kinderstimmen auf den Straßen verstummten, des Nachts gingen in den Häusern die Lichter nicht aus, bei denen die pflegende Liebe wachte, und des Tages ertönten oft stundenlang die Trauerglocken. Fast keine Familie, die mit kleinen Kindern gesegnet war, blieb von der Krankheit verschont und es war oft rührend anzusehen wie in vielen Stuben die ganze kleine Schar im Zwielicht auf dem Bett lagerte, hier schwer seufzend, dort freundlich lächelnd einem die Händchen entgegenstreckend.“ Die Kirchengemeinde Bösingfeld musste innerhalb kurzer Zeit 31 Opfer begraben – bei knapp 3.000 Einwohnern. „Es ist zum Weinen“ klagte der Schreiber, „wenn man auf unserem Gottesacker den Vorsprung sieht, wo die junge Saat schläft, gesät um zur ewigen Ernte zu reifen…“

Im Februar 1889 kamen Masern und Diphtherie Rinteln noch einmal bedrohlich nahe. In Vlotho starben innerhalb weniger Tage 47 Kinder. Die Schulen wurden wochenlang geschlossen, alle Versammlungen abgesagt. Die Schaumburger Zeitung berichtete am 17. Februar 1889 über die Dramen, die sich dabei abspielten: „Viele Kinder leiden neben den Masern auch an der Bräune (Diphtherie) und in den meisten Fällen fallen dieselben dieser Krankheit zum Opfer. Am heutigen Tage zählte man nicht weniger als 15 Kinderleichen, welche im Laufe der Woche beerdigt werden sollen. Mehrere Eltern haben bereits zwei ihrer Kinder kurz hintereinander verloren. Dem Kaufmann Brockmann von hier war gegen Mitte der verflossenen Woche der zweite Sohn gestorben und sollte heute beerdigt werden. Da starb dem Hartgeprüften am Freitag Abend auch noch der dritte Sohn. Die beiden Brüderchen wurden nun am 18. Februar gemeinsam bestattet…“ Rinteln blieben die Ausmaße der Vlothoer Epidemie erspart. Die noch relativ geringe Mobilität wird dazu beigetragen haben, dass die Seuche nicht übergriff. Nur zwei Kinder starben hier an der Diphterie.

Erster Weltkrieg, Reservelazarett Haus 553 am Steinanger, Pockenverdacht, Anfang 1917.

Während des Ersten Weltkriegs kehrte das Gespenst der Seuche noch einmal nach Rinteln zurück. Diesmal waren es die Pocken, die sich durch die Verwundeten in den Lazaretten verbreiteten. Die Pocken, auch Blattern genannt, waren hochinfektiös und hatten ursprünglich bei einer Sterberate um die 30% immer wieder auch junge Menschen reihenweise dahingerafft. Aber gegen die Pocken gab es seit dem Ende des 18. Jahrhundert die Möglichkeit der Impfung, an deren allgemeiner Verbreitung auch der Rintelner Universitätsprofessor Ludwig Philipp Schröter um 1790 großen Anteil hatte. Während also Soldaten des Ersten Weltkrieges zumindest im Regelfall pflichtgeimpft waren, traf dies nicht im vollen Umfang für die Zivilbevölkerung zu, außerdem ließ der Impfschutz nach einigen Jahren deutlich nach. Immer mal wieder hatte es daher auch vor dem Krieg lokale Ausbrüche im Schaumburger Land gegeben, so etwa 1912 auf der Domäne Rodenberg.

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Unter der Überschrift „EILT! EILT!“ meldete die Rintelner Ortspolizeibehörde am 30. Dezember 1916 an die übergeordneten Dienststellen die Pockenerkrankung des Arbeiters Heinrich Sasse in der Brennerstraße 4. Sofort wurde der Mann isoliert, ebenso seine Pflegerin, und auch gesamte Haus mit seinen zehn Bewohnern, darunter Frau und sechs Kinder des Arbeiters, wurde unter Quarantäne gestellt. Ein Schild „Pockenverdacht!“ warnte die Vorübergehenden.

Die Isolation zeigte offenbar Wirkung und Ende Januar konnte Entwarnung gegeben werden. Doch wenig später, am 12. Februar 1917, gab es erneut Seuchenalarm. Jetzt war die Aufwärterin des Gymnasiastenwohnheims in der Eulenburg, Agnes Wilhelmy, an den Pocken erkrankt, weitere Infektionen folgten und die Situation nahm bedrohliche Ausmaße an. Die Verwaltung reagierte sofort, sämtliche Schulen in Rinteln wurden geschlossen und in Kassel 2000 Impfeinheiten bestellt, die auch trotz der Kriegsumstände umgehend geliefert werden konnten. Bei der Massenimpfung, die nun folgte, hatten Arbeiter der kriegswichtigen Betriebe Vorrang, so etwa die gesamte Belegschaft der Glashütte Stoevesandt. Dann kamen, nach Straßenzügen zu bestimmten Uhrzeiten aufgerufen, auch Frauen und Kinder an die Reihe. Am Steinanger wurde ein vereinzelt stehendes Gebäude als Isolierstation eingerichtet.

Weil den Pocken wirksam und kurzfristig durch Impfungen begegnet werden konnte und bei den meisten Menschen noch lang zurückliegende Pflichtimpfungen aus der Kinderzeit nachwirkten, blieb es in Rinteln bei einem einzigen Todesfall, einer 80-jährigen Frau. Ende März konnte in der Stadt Entwarnung gegeben werden.

Anders sah die Situation ab Oktober 1918 bei der Epidemie der Spanischen Grippe aus. Hier war die Diagnose weniger eindeutig, die Gefahr für den Einzelnen bei einer Erkrankung deutlich geringer, dafür aber die Durchseuchung ungleich höher. Die Sterberegister des Rintelner Standesamtes lassen erahnen, welche Dramen sich in den Monaten bis zum Februar 1919 abspielten. Überproportional häufig junge Menschen, Soldaten aus den Lazaretten, auch Kinder und junge Frauen kamen dabei ums Leben. Eine genaue Berechnung der Opferzahlen ist nicht möglich, weil die Todesursache nicht immer eindeutig mit „Grippe“ benannt ist, sondern abweichend auch „Lungenentzündung“ oder „Fieber“ notiert wurde. Es sind aber für Rinteln bei 5.500 Einwohnern rund 30 aus der normalen Sterblichkeit herausragende Fälle, die in diese Kategorie fallen. Es starb also etwa ein halbes Prozent der Einwohner an der Spanischen Grippe. Mit ihr endete für Rinteln die bisher letzte umfassende Epidemie.

(Text & Foto: Dr. Stefan Meyer)

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